Iraner
oder Perser? Wer
sind wir?!?
Begegnet
man heute als Iraner anderen Iranern, wird man einen warmen Small-Talk beginnen,
der äußerlich zwar herzlich, aber eigentlich vorsichtig ist. Man bedient
sich so vieler Tarofs (Floskeln), dass man vollkommen von sich ablenkt. Herzlichkeit,
ohne etwas preis zu geben; Kontakt, ohne wirklich darauf zu hoffen, dass er sich
vertieft - das sind iranische Spezialitäten.
Entgegengesetzt
vieler Meinungen, denke ich nicht, dass es sich hierbei um "freundliche"
Abneigung oder Heuchelei handelt, sondern um eine schizophrene Haltung der eigenen
Identität, der eigenen Geschichte und somit der eigenen Heimat und seinen
Landsleuten gegenüber. Kein Iraner - schon gar nicht der älteren Generation
- kann unpolitisch denken. Jeder von ihnen hat eine feste Haltung gegenüber
den aktuellen sowie vergangenen Geschehnissen. Und welche Repressalien auf gewisse,
politische Gedanken stehen - und das auslandsübergreifend - wissen wir aus
schmerzlicher Erfahrung. Also schweigt man sich über seine persönliche
Geschichte aus, ohne jedoch gänzlich aufeinander verzichten zu können
- denn es ist viel mehr Sehnsucht zueinander vorhanden, als man seinen eher negativ
bewerteten Erfahrungen mit den eigenen Landsleuten zutrauen mag. Doch
haben wir im Iran nicht nur unser Glück verlassen, sondern auch unser Vertrauen
in dieses Volk begraben - mit all den zu beklagenden Opfern. Im Moment des Abschiedsnehmens
und einer Palette weiterer Tarofs wie "Kommen Sie vorbei, wir würden
uns freuen", ohne dabei die Telefonnummer oder die Adresse auszutauschen,
bleibt man erleichtert - aber allem voran sehr einsam zurück. Wer
sind wir? Diese Frage hat sich jeder Iraner schon oft gestellt in seinem Leben.
Oft mitten in einer iranischen Party, in der fast alle blondiert sind, die Männer
gezupfte Augenbrauen haben oder mit operierten Nasen posieren, wie als würde
man versuchen, alle phänotypischen Merkmale unseres Volkes zu verschleiern.
Oder an einem Abend bei Bekannten, an dem man wieder mehr über seine gesellschaftlich
anerkannten Leistungen ausgefragt wird, als über sein seelisches Befinden
- und ganz nebenbei erzählt bekommt, wie viele Statussymbole man schon gesammelt
hat. - Wer sind wir eigentlich? Bei
der Frage eines Deutschen nach unserer Herkunft, versuchen wir unsere Haut noch
irgendwie mit "Ich bin Perser, ich bin Perserin" zu retten - in der
Hoffnung, man könne uns irgendwie noch mit der antiken Pracht Persiens in
Verbindung bringen. Bloß nicht sagen, dass man Iraner ist. Bloß nicht
mit dem alten, bärtigen Mann mit dem unfreundlichen Gesicht in Verbindung
gebracht werden, der Millionen, junge Iraner im Golfkrieg in den Tod geschickt
hat, um dann in Ruhe seine neue Idee eines Gottesstaates stabilisieren zu können.
Verdammt, wer
sind wir? Wo finden wir unsere Identität wieder? In der alt-iranischen Antike?
Bei Dariush und Kurosh (Darios und Kyros)? In der Zeit vor der Revolution und
Behrouz Vossughi und Googoosh? Bei den toupierten Haaren, den Schlaghosen und
Haydeh's Stimme? In den Geschichten unserer Eltern und Großeltern, weil
wir keine andere Wahl haben und jene Zeit nicht miterleben durften? Beim Islam
und seinem arabischen Propheten, der Shia, den religiösen Machthabern? Wer
genau sind wir? Was
können wir einem Deutschen über den Iran erzählen? Die neuesten
Witze über Ahmadi Nejad? Die neuen skandalösen Äußerungen
- und uns dabei aus Verzweiflung einem grotesken Lachanfall hingeben? Über
die Angst vor einem bevorstehenden Krieg reden? Über unsere politischen Gefangenen?
Über Frau Kazemi - und was sie in den letzten Minuten ihres Lebens wohl erlitten
hat? Darüber, wieviele Verwandte wir schon verloren haben? Von den Narben
der Peitschenhiebe auf dem Rücken unseres Cousins, weil er Musik CD's verkauft
hat? Was genau? Was
sollen wir sagen? Doch lieber, dass "Kurosh der Große" (Kyros)
vor 2500 Jahren die ersten Menschenrechte der Welt formuliert und verankert hat?
Dass Mazdak vor 1500 Jahren der erste Sozialist der Welt war? Dass Dariush (Darios)
den Sueskanal fertiggestellt hat? Dass wir Kaiserinnen wie Iran-Dokht und Azarmidokht
hatten, die Iran regierten? Dass wir die ersten Batterien (Parthische Tongefäße)
erfunden haben - und das vor mindestens 2000 Jahren? Dass wir die erste monotheistische
Religion/Philosophie der Welt hatten, die ganz ohne Gewalt überzeugte? Dass
unsere Frauen Kriegsschiffe führten? Dass sie genauso hohe und heilige Posten,
wie das Hüten des Feuers im Feuertempel, besetzten - so wie Männer?
Dass wir Mutterschaftsurlaub, Sozialhilfe und obligatorische, medizinische Versorgung
des Volkes gewährleisteten? Die erste Post? Was
sollen wir erzählen, liebe Leser und Leserinnen? Dass die Perser für
Herodot damals wie "Barbaren" wirkten aus dem einfachen Grund, weil
diese "Barbaren nicht einmal Sklaven hatten und das gemeine Volk genau die
selben Rechte wie der König"? Von der Wissenschaft gar nicht zu sprechen.
Medizin, Mathematik, Astronomie, Philosophie. Was und wo sollen wir anfangen,
liebe Landsleute? Bei unseren Helden? Babak Khorramdin? Seinem Sohn Azar? Bei
unseren Frauen? Bei dem ersten Vielvölkerstaat der Welt? Das erste Weltreich
der Welt? Wo sollen wir anfangen? Und vor allem: WARUM sollten wir anfangen? Nur,
damit uns schmerzlich bewusst wird, dass Iran nichts mehr mit diesen Errungenschaften
für die Welt gemein hat? Damit wir daran erinnert werden, dass wir, wenn
wir ehrlich sind, keinen Bezug mehr zu dieser Zeit haben - egal, wie sehr wie
dahinstrampeln? Damit wir wieder daran erinnert werden, für was - und vor
allem für WEN - das iranische Volk bei der Revolution 1979 auf die Straßen
gegangen ist? Damit wir uns eingestehen, dass uns nichts übriggeblieben ist,
das uns gehört? Und dass uns deshalb das Iranischsein fast unmöglich
ist? Wer sind
wir? Ich, liebe Leser und Leserinnen, habe nichts mehr, womit ich mich identifizieren
kann. Ich verstecke mich hinter vielen vor-revolutionären Filmen mit Behrouz
Vossughi, Googoosh & co. Schlecht synchronisierte Nostalgie in schwarz/weiß
Bildern aus einer Zeit, in der ich noch nicht einmal als Embryo existierte - und
dennoch das letzte Stück Heimat, das mir bleibt. Im Hintergrund läuft "Vatan"
("Heimat") von Dariush - und ich werde mir dessen bewusst, dass wir
hier feststecken und nicht einmal eine Opposition haben, keine Alternativen, kein
Standpunkt, den wir vertreten, keine wirkliche Zukunftsaussicht. Ich
sitze hier und werde mir dessen bewusst, dass selbst, wenn alles optimal liefe,
kein Krieg stattfände, die lieben Mullahs ihre Turbane einpacken und für
immer Urlaub in Dubai oder sonst wo machen würden und unser junges Volk einen
erdpulsierenden Freudenschrei ausstoßen würde, sich vom dunklen Schleier
auf der Seele befreien und dann noch die WM gewinnen würde - selbst dann,
liebe Leser, selbst dann hätten wir noch soviel zu tun, dass wir Iran nicht
mehr wirklich blühen sehen könnten. Aber wir könnten wenigstens
dafür sorgen, dass unsere Kinder es dürfen. Denken
Sie immer daran, lieber Leser, wenn Sie einem Landsmann oder einer Landsfrau auf
der Straße begegnen und er/sie plötzlich nicht mehr persisch spricht,
sondern deutsch - wenn er/sie Ihrem Blick ausweicht und sich abwendet: Es ist
keine Abneigung, es ist keine Verachtung - es ist nur Angst. Und denken Sie daran,
dass Sie den ersten Schritt machen können, indem Sie sich selbst öffnen
und auf ein "Haletun chetore" ("Wie geht es Ihnen") nicht
mit einem unehrlichen, gequälten Lächeln antworten, sondern mit Ihrer
ganz persönlichen Geschichte. Und Sie werden sehen, dass Sie nach dem Verabschieden
etwas gewonnen haben, von dem Sie dachten, dass Sie es auf ewig verloren haben:
Ein Stück Heimat
Nazanin
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